Human Factor

"Captain goes solo" hat nichts mit Beziehungskrisen zu tun! - Unfallanalysen aus der Luftfahrt

Warum Flugzeuge abstürzen

In meinem letzten Artikel habe ich Euch von der jungen Sonia Hartwick erzählt, die 1989 als einziges Crewmitglied den Absturz einer Maschine der Air Ontario im kanadischen Dryden überlebt hat. Es ging darum, dass Leadership Followership braucht und darum, was Followership in einer komplexen und dynamischen Welt bedeutet. Sonia hat geschwiegen, geschwiegen aus menschlich nachvollziehbaren Gründen. Sie hat geschwiegen, weil sie nicht als aufmüpfig wahrgenommen werden wollte, weil sie Angst hatte, sich zum Außenseiter zu machen. Gute Gründe zu schweigen. Als junge Frau habe ich aus exakt den gleichen Gründen immer wieder geschwiegen. -Und hatte Glück! Denn mein Schweigen hat niemals eine Katastrophe begünstig, den Weg für einen Flugzeugabsturz bereitet. In Sonias Fall war das anders und ich kann mir gut vorstellen, welch grausame Frage sie sich als einziges überlebendes Crewmitglied nach dem Unglück gestellt haben muss.

Nach der Veröffentlichung meines letzten Artikels haben mich sehr viele Reaktionen erreicht. Danke für all die wertvollen Statements. Und ja, natürlich ist es nicht die alleinige Schuld von Sonia. In einem Umfeld, so komplex wie die Luftfahrt ist es immer die Kombination mehrerer Faktoren, die zu einem Unglück führen. Die einzelnen Akteure haben lediglich die Möglichkeit, diese Fehlerketten zu unterbrechen. Dabei müssen sie häufig entgegen ihrer typischen Verhaltensweisen, entgegen dem, was einfach menschlich wäre, agieren. So entstand der Ansatz des Human Factors Trainings.

Nachdem wir uns also in der letzten Woche Sonias Perspektive und einen kleinen Teil dessen, was guter Followership bedeutet, betrachtet haben, schauen wir uns in dieser Woche einen kleinen Teil dessen an, was guten Leadership ausmacht. Wir betrachten uns den Unfall aus der Perspektive von Kapitän John Morwood, der den Unfall leider nicht überlebt hat. Aus diesem Grund können wir vieles natürlich nur annehmen, aber die ausführlichen Unfallermittlung geben hierfür gute Anhaltspunkte.

Captain goes solo!

“Captain goes solo” - so wird es in einer Studie zu den häufigsten Unfallfaktoren in der zivilen Luftfahrt des National Transportation Safety Board (NTSB) der USA beschrieben. Und nein, das bezieht sich nicht auf das Liebesleben des Kapitäns. “Captain goes solo” beschreibt das Phänomen, dass der Kapitän in Momenten, in denen er eigentlich auf sein Team und dessen Input angewiesen wäre, um maximal erfolgreich zu agieren, sein Ding macht und sein Team als Ressource ausblendet. Ziemlich häufig geht das gut, aber wann immer bereits der Fehlerteufel Einzug gehalten hat, trägt dieses Verhalten maßgeblich dazu bei, dass alles schließlich gehörig schief geht. Im Fall des Crashs von Air Ontario in Dryden bedeutete es, dass 24 Menschen ihr Leben verloren, Menschen mit Träumen, Hoffnungen, Plänen, mit Familien und Freunden, die um sie trauerten.

Warum es passiert, dass ein Kapitän (oder jede x-beliebige andere Führungskraft) sein oder ihr Ding macht, wird in meinen Workshops und Schulungen immer wieder heftig diskutiert. “Weil er/sie sich für besser oder überlegen hält, oder die anderen gar für zu doof oder zu unerfahren” sagen die einen. “Weil das Team keine Verantwortung übernimmt und passiv bleibt, bleibe ihm/ihr nichts anderes übrig, als selbst aktiv zu werden” sagen die anderen. Beides ist möglich, sage ich.

Lasst uns zurück in den März 1989 reisen und uns gemeinsam mutmaßen, was es bei Kapitän Morwood war.

Eine Fehlerkette wie aus dem Lehrbuch…

Kapitän Morwood, ein erfahrener Kommandant, freut sich am Morgen seines letzten Tages eines mehrtägigen Einsatzes sicher schon auf den Familienurlaub, der am nächsten Tag antreten möchte. Es ist noch winterlich in Kanada, als sich der Kapitäne gemeinsam mit seiner Crew auf den Weg zum Flughafen macht. Der Plan ist von Thunder Bay über Dryden nach Winnipeg zu fliegen. Alles ist minuziös durchgeplant und alle sind bereit, loszufliegen, als ein Dispatcher Kapitän Morwood und seinem Team einen Strich durch die Rechnung macht. Air Canada hat einen Flug abgesagt und zehn zusätzliche Gäste sollen nun auf Kapitän Morwoods Flug mitfliegen. Erstmal kein großes Thema. Allerdings stellt Kapitän Morwood schnell fest, dass er mit den zusätzlichen Gästen und deren Gepäck ein Gewichtsproblem bekommt. Er möchte Gäste ausladen. Es wird jedoch für ihn entschieden, dass er lieber Kerosin enttanken lassen soll. Sicher war der Kapitän alles andere als begeistert. Ein Enttankungsvorgang ist alles andere als alltäglich und braucht Zeit, Zeit die er nicht hat, um seine Gäste pünktlich zu ihren Anschlussflügen nach Winnipeg zu bringen. Ich stelle mir vor, dass Kapitän Morwood sicher schon leicht gestresst ist. Zudem weiß er, dass er nun nicht nur in Thunder Bay Zeit verliert, sondern auch in Dryden, da er dort deutlich länger werde tanken müssen, als ursprünglich vorgesehen, um bis nach Winnipeg zu kommen.

Um 11:55 Uhr ging es endlich los. -Etwa eine Stunde später als geplant. Bereits 45 Minuten später landet er seine Maschine in Dryden, wo weitere Gäste zusteigen und das Flugzeug erneut betankt wird.

Am Flughafen wird Kapitän Morwood dabei beobachtet, wie er ein sehr emotionales Telefongespräch mit der Zentrale seiner Airline führte. Er ist wütend. Es wird laut. Denn er war nicht nur zu spät, weil eine aus seiner Sicht schlechte Entscheidung für ihn getroffen wurde. Zusätzlich wurde seitens des Managements entschieden, das Flugzeug mit einer defekten Auxiliary Power Unit (APU) fliegen zu lassen, eine Art Hilfstriebwerk, das am Boden, wenn die Haupttriebwerke ausgeschaltet sind, Strom liefert. Am Flughafen in Dryden gab es kein Bodenstromaggregat, dass die APU ersetzt hätte. So musste Kapitän Morwood eines der beiden Triebwerke während der gesamten Bodenzeit laufen lassen. Mit laufendem Triebwerk zu betanken, ein sogenanntes “Hot Refueling”, ist an sich schon ausgesprochen risikoreich. Mit Gästen an Bord ist es sicher schwer, die Verantwortung als Kapitän zu übernehmen. Kapitän Morwoods Stresslevel steigt ins unermessliche. So viele Dinge, die es zu beachten gilt und dann sind ja auch noch die Gäste, die nach ihren Anschlussflügen fragen. Alle Augen sind auf Kapitän Morwood gerichtet. Währenddessen schlägt auch noch das Wetter um. Es beginnt zu schneien. Ob Kapitän Morwood das überhaupt zur Kenntnis nimmt, wissen wir nicht. Ich kann mir vorstellen, dass er froh ist, als der Betankungsvorgang ohne Zwischenfälle abgeschlossen ist. Wahrscheinlich will er nun einfach ganz schnell weiter. Er macht eine kurze Ansage an seine Gäste und entschuldigt sich für die Verspätung, geht in sein Cockpit und los geht die Reise, zunächst Richtung Startbahn und schließlich mit Vollgas Richtung Himmel. Der Moment, in dem sich ein Flugzeug gen Himmel erhebt, den Kontakt zum Boden verliert, ist jedes Mal magisch. Ich stelle mir vor, wie Kapitän Morwood abhebt und vielleicht ganz kurz dankbar ist, dieses heftige Chaos hinter sich gelassen zu haben. Die ersten Momente in der Luft laufen ab wie immer. Ganz plötzlich verliert der Flieger jedoch an Höhe. Kapitän Morwood ruft all sein erlerntes Wissen ab, um den Flieger abzufangen. Aber die schneebedeckten Tannen kommen immer näher… Chaos, Panik, Schreie? Ich weiß es nicht. Kapitän Morwood verliert an diesem Tag sein Leben, ebenso wie 23 weitere Menschen, darunter sein Co-Pilot und eine seiner beiden Kabinenkolleginnen. Zurück bleiben die Flugbegleiterin Sonia, verletzte und traumatisierte Passagiere und 24 Familien, die ihre Liebsten verloren haben.

Natürlich wird nach einem solchen Unglück sehr genau geschaut was passiert ist, wer Schuld am Tod so vieler Menschen trägt. Nicht nur die Angehörigen wünschen sich Aufklärung.

Die Ermittlungen ergaben schließlich, dass sich auf den Tragflächen Eis gebildet hat, das der Kapitän wohl nicht gesehen hat oder nicht sehen wollte. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur dass Stress und Wut dafür sorgen, dass unsere Wahrnehmung immer enggefasster wird. Wir bekommen Scheuklappen und richten all unser Tun auf ein bestimmtes Ziel aus. -Möglichst schnell nach Winnipeg zu kommen… Target Fixation nennen wir das.

Sonia hat das Eis gesehen, ebenso wie einer der Gäste, der Sonias Kollegin angesprochen hat. Keiner hat Kapitän Morwood diesbezüglich angesprochen. Auch der Co-Pilot hat den Kapitän nicht angesprochen, ob sie auf Grund der Wetteränderung nicht doch über eine Enteisung nachdenken sollten. Vielleicht hat der Co-Pilot sich auch nicht getraut, weil er wusste, dass man für die Enteisung beide Triebwerke abschalten musste und diese ohne APU und ohne Bodenstromaggregat nicht wieder hätte starten können. Vielleicht wollte der Co-Piloten seinen Kapitän einfach nicht noch zusätzlich stressen. Menschen, die dem Kapitän am Flughafen in Dryden begegnet sind, sagten übereinstimmend aus, dass der Kapitän sehr gestresst wirkte.

Was bleibt ist die Frage nach der Schuld

Wer nun Schuld am Tod dieser Menschen hat? Die Flugbegleiterin, die nichts vom Eis auf den Tragflächen gesagt hat? Air Ontario als Unternehmen, weil der Kapitän unter Druck gesetzt wurde, nicht frei agieren konnte und weil das Unternehmen entschied, das Flugzeug ohne funktionsfähige APU auf die Reise zu schicken? Das Wetter? Oder Kapitän Morwood, der nicht nach den Tragflächen geschaut hat und statt sein Team als Ressource zu nutzen und nachzufragen, sein Ding gemacht hat? Ich weiß es nicht. -Zumal die Frage nach der Schuld nichts leichter oder gar rückgängig macht.

Die Luftfahrt lernt aus Fehlern

“Diese Bücher sind mit Blut geschrieben!”, sagte mein erster Flight Safety Ausbilder damals, vor 23 Jahren. Diese Bücher, von denen er sprach, sind unglaublich dick und es gibt davon so einige. Man kann Unfälle nicht wieder rückgängig machen, indem man einen Schuldigen definiert. Man kann jedoch aus ihnen lernen um dadurch die Luftfahrt sicherer zu machen. Die Luftfahrt tut das als Ganzes. Aber auch ich ganz persönlich kann aus einem solchen Vorfall lernen. Ich habe mir drei Dinge mitgenommen:

  • Ich möchte ansprechen, wenn ich das Gefühl habe, dass etwas nicht stimmt. Ich möchte mutig sein, mutiger als Sonia. Und ich weiß wie schwer das ist!

  • Wenn ich nicht in der Position bin, eine Entscheidung selbst zu treffen, dann ist es meine Verantwortung, diejenigen, die entscheiden, bestmöglich mit Informationen zu füttern. Nur so wird die Entscheidung gut! Und natürlich kämpfe ich als Coach für eine Dezentralisierung von Entscheidungsfindungsprozessen. Am Ende sollte diejenigen entscheiden, die wirklich an vorderster Front stehen und sehen können, was es braucht.

  • Wann immer ich merke, dass der Stress steigt, möchte ich bewusst darauf achten, was die anderen sagen oder tun. Ich möchte mich trauen, um Hilfe und Unterstützung zu bitten. Ich möchte vermeiden, in einen Tunnel zu fahren…

Diese drei Lektionen funktionieren nicht nur in der Luftfahrt, sondern überall dort, wo ich Dynamik und Komplexität erfolgreich managen möchte. Die Faktoren, die uns auf menschlicher Ebene erfolgreich sein lassen, sind überall die gleichen, ob damals im Flugzeug, oder heute in einem ganz neuen Umfeld. Es sind lediglich die Definitionen von Erfolg, die sich unterscheiden.

Captain goes solo! Constance goes solo?

Vielleicht denkt Ihr ja auch an Kapitän Morwood, wenn Ihr das nächste Mal frustriert und gestresst einfach Euer Ding durchzieht, wütend auf die Kollegen, den Chef, die Umstände, den Kunden oder das Wetter. Es gibt sie immer wieder, diese Situationen, in denen wir glauben, als Einzelkämpfer allein im Chaos überleben zu müssen. Und vielleicht fällt Euch dann ein, dass Kapitän Morwood nicht alleine war. Er konnte seine Crew einfach nicht sehen, weil er nicht bewusst nach ihnen geschaut hat. Er hat sich selbst in eine Isolierung manövriert. Aber jeder von uns hat eine Crew! Glaubt mir. No man is an island! Manchmal muss einfach nur ganz genau hinschauen und mutig sein.

Genießt Euren Sonntag.

Eure Constance

Captain goes solo

… und die Kabine ist unter Druck?

Warum Leadership Followership braucht - Ein Beispiel aus dem Flugzeug

Ein Coach auf Abenteuerreise

Heute schreibe ich Euch aus dem schönen Prag, wo ich an diesem Wochenende angehende Flugbegleiter im Human Factors Bereich schulen darf. Ich liebe diese kleinen Ausflüge in meine alte Welt und finde, es ist an der Zeit auch Euch im Rahmen meines Blogs mal wieder in die Flugzeugwelt zu entführen.

Wenn selbst Götter machtlos sind

Als Coach und Berater habe ich momentan einen starken Fokus auf die Begleitung und Entwicklung von Führungskräften. Überhaupt scheint das Thema Leadership ein absolutes Fokusthema der schönen neuen Welt der New Work zu sein. Fakt ist jedoch, dass selbst Götter machtlos sind, wenn niemand an sie glaubt. Was aus meiner Sicht in der Welt außerhalb der High Risk Bereiche sträflich vernachlässigt wird, ist das Thema Followership. Dabei gibt es keinen guten Leadership ohne guten Followership und ebenso, wie man Menschen für das Thema Leadership sensibilisieren sollte, sollte man Menschen auch für das Thema Followership sensibilisieren. Die Luftfahrt ist an dieser Stelle deutlich weiter. -Sicher auch, weil Misserfolge in der Luftfahrt für gewöhnlich ziemlich absolut sind und nicht vertuscht oder schöngeredet werden können. Verunglückt ein Flugzeug ist das ein glasklarer Fakt, den kein Controlling der Welt mehr “schönrechnen” kann. Und bereits seit Ende der siebziger Jahre ist klar, dass der Mensch und das Team eine nicht zu unterschätzende Schlüsselrolle einnehmen, wenn es darum geht, die Dynamik und Komplexität, die es mit sich bringt, wenn man in ziemlich schweren Blechdosen ziemlich schnell um die Erde düst, zu managen. Somit blickt die Luftfahrt auf viele Jahre Erfahrung im Bereich des Human Factors Training zurück und versteht es nicht nur Leadership, sondern auch Followership zu schulen.

Die eigenen Wurzeln stets vor Augen

Wann immer ich eine Gruppe junger, angehender Flugbegleiter vor mir habe, muss ich daran denken, wie es war, als ich damals im 134. Flugbegleiterlehrgang der Condor saß. Es war aufregend, interessant, sehr anstrengend und manchmal sogar schockierend. In der Retrospektive muss ich allerdings sagen, dass es aber auch kein Hexenwerk war. Das Handwerk ist schnell gelernt, die Routine kehrt schnell ein. Man hat viele Check-Listen, die einem Sicherheit geben. Ja, es ist körperlich zuweilen sehr anstrengend und wenn Menschen mit einem geregelten Tagesablauf sagen, sie sind nach der Arbeit müde, ist das definitiv eine andere Form von müde, als die absolute körperliche Ausgelaugtheit nach einem anstrengenden Nachtflug in Kombination mit Jetlag. Aber auch das ist im Rahmen des Machbaren, sonst wäre ich sicher selbst nicht so viele Jahre geflogen. Es gibt jedoch einen Aspekt, der mir damals, mit Anfang zwanzig nicht bewusst war, der mir jedoch in den darauffolgenden Jahren immer deutlicher und klarer wurde: Um ein gutes Crewmitglied zu sein, bedeutet es zum einen, sich in die Hierarchie einzufügen, gleichzeitig aber auch ein unglaubliches Maß an Eigenverantwortung zu übernehmen. Denn jedes einzelne Crewmitglied übernimmt ganz persönlich Verantwortung für das größte Gut unserer Welt: Für Menschenleben! -Für die Leben der Menschen an Bord. Sich dieser großen Verantwortung bewusst zu sein und ihr im täglichen Tun gerecht zu werden, ist die eigentliche Herausforderung für diese zauberhaften jungen Menschen, mit denen ich heute den ganzen Tag im Lehrsaal und auf der Flugzeugattrappe verbringen durfte.

Als Trainer ist es gar nicht so einfach, diese doch recht abstrakte Verantwortung greifbar zu machen. Hierfür arbeite ich gerne mit konkreten Beispielen. An diesem Wochenende habe ich mich für eine junge, kanadische Flugbegleiterin entschieden, die vor vielen Jahren als einziges Crewmitglied den Absturz einer Maschine der Air Ontario überlebt hat.

Zurück in die Vergangenheit

Wir schreiben den 10. März 1989. Sonia Hartwick arbeitet seit zwei Jahren als Flugbegleiterin bei Air Ontario. Eine attraktive Frau, vielleicht Mitte zwanzig, mit blondem Haar, blauen Augen und einem strahlenden Lächeln. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Katherine Say, Kapitän John Morwood und dem Ersten Offizier Keith Mills soll das der letzte Tag eines mehrtägigen Einsatzes sein. Kapitän Morwood freut sich darauf, am nächsten Tag seinen Urlaub mit der Familie anzutreten und alle anderen freuen sich sicher auf zuhause. An diesem Tag soll es mit einer Fokker F28 von Thunder Bay nach Winnipeg mit einem kurzen Zwischenstopp in Dryden gehen. Eigentlich nichts Großes. In Dryden angekommen ist das Flugzeug bereits verspätet und die Verspätung scheint weiter anzuwachsen. - Ein Umstand, der für eine Besatzung immer eine gehörige Extraportion Stress bedeutet. Dem Flugplan hinterherzujagen ist keine Freude. Ein zusätzlicher Stressfaktor für die Piloten ist, dass man entschieden hat, die Maschine mit einer defekten Auxiliary Power Unit (APU), einer Art Hilfstriebwerk, das zum einen die initiale Energie liefert, die man braucht um die Triebwerke zu starten, zum anderen aber auch den Strom am Boden liefert, fliegen zu lassen. Eigentlich ist eine defekte APU kein Beinbruch und ich bin selbst schon oft mit einem solchen Defekt unterwegs gewesen. An Flughäfen gibt es Bodenstromaggregate, die die APU ersetzen. Also alles gut. Allerdings ist der Flughafen von Dryden so klein, dass er an diesem Tag keine Bodenstromaggregate zur Verfügung stellen kann. Um überhaupt wieder starten zu können, müssen die Piloten eines der beiden Triebwerke während der gesamten Bodenzeit laufen lassen. Sie müssen betanken und Boarden während das Triebwerk läuft. Heute wäre ein solches Vorgehen verboten, damals war es akzeptabel. Für die Piloten, besonders für den Kapitän, bedeutet das an diesem Tag eine große Menge Extrastress.

In der Kabine geben Sonia und Katherine ihr Möglichstes, um diesen Stress vor den Gästen zu verbergen und den Unmut der Gäste hinsichtlich der Verspätung zu kompensieren. Während der Flieger in Dryden abgefertigt wird, schlägt das Wetter plötzlich um und es beginnt zu schneien. Der Stress wird größer, denn die Verspätung droht weiter anzuwachsen. Ich weiß gar nicht, ob Sonia Familie hat, auf die sie sich freut, Kinder, die auf sie warten, aber ich weiß, wie sehr man sich an solchen Tagen einen pünktlichen Feierabend wünscht.

Sicher möchte auch Kapitän Morwood nachhause und entscheidet, sich zu beeilen, die Türen zu schließen, und in Richtung Startbahn zu rollen. Was Kapitän Morwood übersieht, ist, dass die veränderte Wettersituation dazu geführt hat, dass sich Eis auf beiden Tragflächen gebildet hat. Fahrlässig, könnte man meinen. Aber wer von Euch hat nicht schon einmal im Stress etwas übersehen? Vielleicht passt auch Kapitän Morwoods mentales Modell nicht dazu, dass es Eis geben würde. Er weiß, dass es für ihn in Dryden keine Möglichkeit gibt, zu enteisen. Zum Enteisen ist nämlich ein Ausschalten beider Triebwerke notwendig, die er auf Grund der defekten APU und des fehlenden Bodenstromaggregates nicht wieder hätte starten können. Es wären also alle erst einmal in Dryden geblieben, bis ein entsprechendes Aggregat eingeflogen worden wäre. Dem alten Motto folgend “Es kann nicht sein was nicht sein darf!” spielt ihm an diesem Tag vielleicht sogar seine Wahrnehmung einen Streich. Ein sehr bekanntes Phänomen.

Allerdings gibt es andere, deren Wahrnehmung funktioniert und die das Eis sehen. Ein Gast spricht Katherine wegen des Eises an. Diese beruhigt den Gast, weil sie annimmt, dass die Tragflächen sich selbst enteisen. -Sehr dünnes Eis des gefährlichen Halbwissens! Es sind lediglich die Spitzen der Tragflächen, die beheizt werden und somit auch enteist werden können. Da hat sie wohl etwas verwechselt!

Sonia weiß es besser und ist sehr besorgt wegen des Eises, entscheidet sich aber, den Kapitän nicht anzusprechen.

So nehmen die Dinge ihren Lauf. Kapitän Morwood leitet im festen Vertrauen darauf, dass alles OK ist und sicher auch mit einer Menge Zeitdruck den Start ein. Zunächst hebt die Maschine ab, verliert dann aber wieder an Höhe und stürzt in den angrenzenden Wald. An diesem Tag verlieren 24 Menschen ihr Leben. -Darunter Sonias Kollegin, ihr Kapitän und ihr Erster Offizier, mit denen sie sicher kurze Zeit davon noch gemeinsam gegessen und gelacht hat. Meine Crew war immer viel mehr als nur das Team, mit dem ich arbeite. Man ist sich nah, vertraut sich und ist aufeinander angewiesen. Heute habe ich Kollegen, die ich sehr mag und schätze. In Uniform hatte ich eine Familie, die mich ganz so wie eine echte Familie manchmal ziemlich genervt hat, die mir aber immer ausgesprochen nah war. Sie zu verlieren? -Ich möchte mir nicht vorstellen, an Sonias Stelle zu sein…

Und was bleibt ist die Frage nach dem “Warum”

Im Nachhinein wurde Sonia gefragt, warum sie nichts gesagt habe. Ihre Erklärung ist ebenso nachvollziehbar, wie traurig. Sonia beschreibt, dass sie Angst davor hatte, es könnte sich rumsprechen, dass sie den Piloten in ihre Arbeit reinrede, den Kapitän kritisiere. Immerhin sei sie doch eigentlich diejenige, die für Tee und Kaffee verantwortlich sei. Sonia hatte Angst, dass sie daraufhin im Kreise der Kollegen weniger beliebt oder angesehen sein könnte, vielleicht sogar schlechtere Flugpläne bekäme.

Ich habe mich mehr als einmal gefragt, ob Sonia den Gedanken hatte, dass ihre Kollegen und all die anderen Menschen noch leben würden, wenn sie mutiger gewesen wäre, wenn sie die Verantwortung übernommen hätte, den Kapitän angesprochen hätte. Was sind schon Flugpläne? Sonia war mehr als einmal in meinen Gedanken präsent, wenn ich in meiner schicken blauen Uniform durchs Flugzeug gelaufen bin. Sie hält mir bis heute vor Augen, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen, eine gutes Teammitglied, ein guter Follower zu sein. -Auch weil ich ihre Ängste als junge Frau so gut verstehen kann. Auch ich wollte besonders in meinen ersten Jahren auf Reisen vor allem eines: dazugehören! Vielleicht habt Ihr ja auch schon einmal geschwiegen, geschwiegen aus Angst zum Außenseiter zu werden, nicht mehr gemocht zu werden. Menschlich nachvollziehbar. Aber ist es auch verantwortungsvoll?

Natürlich braucht es eine Kultur, die es uns ermöglicht, Verantwortung zu übernehmen. Es braucht Führung auf allen Ebenen, die Rahmenbedingung schafft, die es ermöglichen, den Mund aufzumachen, zu sprechen, kritisch sein zu dürfen. Daran arbeite ich mit Führungskräften in allen Bereichen und auf allen Ebenen. Denn ebenso wie Kapitän Morwood an diesem Tag sein Team gebraucht hätte um eine bessere Entscheidung zu treffen, sind alle Führungskräfte, die in einem dynamischen und komplexen Umfeld agieren, auf ihr Team angewiesen, um gute Entscheidungen zu treffen. Damit Menschen jedoch diesen Raum, der ihnen geboten wird, annehmen, muss ich auch mit den Teams arbeiten dürfen, so wie ich heute und morgen mit den jungen Flugbegleitern arbeiten darf. Es wird immer mehr Gründe geben, besser zu schweigen. Aber wir befinden uns nun mal in einer Welt, die zunehmend Eigenverantwortung auf allen Ebenen einfordert und es ist nur fair, wenn wir Menschen auf diese Verantwortung vorbereiten, sie sensibilisieren und ein Stück weit an die Hand nehmen.

Die Gedanken an Sonia nehme ich morgen sicher wieder mit in meinen Lehrsaal und ich hoffe, dass auch meine Teilnehmer noch ein wenig über Sonia nachgedacht haben. Denn ich bin nicht in der Lage ihnen Verantwortung beizubringen. Ich liefere lediglich das Gedankenfutter, das es braucht, um sich selbst kritisch zu hinterfragen und so zu wachsen.

Genieß Euren Sonntag!

Eure Constance

Geschichten aus der Flugzeug-Mottenkiste

Über Verantwortung und Followership

Wie Stanislaw Petrow einfach so einen Atomkrieg verhinderte...

Wie? Ihr kennt Stanislaw Petrow nicht? Und das obwohl er anno 1983 quasi im Alleingang einen Atomkrieg verhinderte! Ihr solltet Euch unbedingt fünf Minuten nehmen und mit mir auf Zeitreise gehen. Denn von diesem heimlichen Helden der Geschichte können wir so einiges lernen!

Warum Dynamik und Komplexität nur zu managen sind, wenn alle Akteure Verantwortung übernehmen und Entscheidungen treffen

Während wir Coaches, Change Agents und HRler nicht müde werden, zu predigen, dass unsere immer dynamischer und komplexer werdende Welt vor allem eines braucht; Menschen die eigenverantwortlich handeln, Entscheidungen treffen und so unsere (Arbeits-) Welt proaktiv mitgestalten, stellt sich mir manches Mal die Frage, wie lange es wohl dauert, bis wir Menschen so weit sind, dies dann auch vollumfänglich zu tun. Ich träume von lernenden Organisationen, von einer Kultur der psychologischen Sicherheit und an manchen Tagen komme ich mir vor, wie der gute alte Sisyphos: Zwei Schritte vor und drei zurück… Dabei gibt es sie und es gab sie schon immer, diese Menschen, die unauffällig vor sich hinarbeiten und just in diesem Moment, in dem sie wirklich gebraucht werden, reißen sie sich das weiße Shirt oder die weiße Bluse vom Leib und sind für eine kurze Zeit Wonder Women oder Superman, ehe sie sich wieder in die Unauffälligkeit zurückziehen.

Einen solchen Superman möchte ich Euch heute vorstellen. Denn wer glaubt, die Welt hätte während der Kubakrise an der Grenze zum Atomkrieg gestanden, der hat keine Ahnung, was in der Nacht vom 25. auf den 26. September 1983 passiert ist.

Lasst uns gemeinsam auf Zeitreise gehen

Spätsommer 1983: Ich wünschte, ich könnte wirklich von damals erzählen, aber ich war noch im Kindergarten und meine Erinnerung ist halbwegs verschwommen. Mein kleiner Bruder war noch nicht geboren und es war noch vor Tschernobyl. Deshalb bin ich mir sicher, dass ich zu dieser Zeit häufig mit meinem Papa im Wald war, um Steinpilze zu sammeln. Nach Tschernobyl war das ja erstmal nicht mehr möglich. Neben Pilze suchen und Drachen steigen lassen habe ich den Kindergarten wirklich geliebt. Tante Eva war toll! Nach dem Kindergarten war ich oft mit meiner Oma im Garten. In regelmäßigen Abständen donnerten US-Kampfflieger über uns, die so laut waren, dass sie mir jedes Mal Angst machten. Meine Oma beruhigte mich immer und erklärte mir, dass die Amerikaner uns vor den Russen beschützten und wir dankbar sein müssen, dass sie hier sind. Oma war Kriegsflüchtling und hatte leider offensichtlich mehr als nur eine Idee davon, zu was die russische Armee im Zweiten Weltkrieg fähig war. Kindheit im Kalten Krieg! Ich denke dieser Tage immer wieder an meine Oma und an ihre große Angst. -Und daran, was es bedeutet, Flüchtling zu sein.

Vielleicht war ich auch am 25. September mit Oma im Garten oder mit Papa Pilze sammeln. Vielleicht donnerten auch an diesem Tag Kampfflieger über uns und ich zuckte in dem Moment, in dem sie knallend die Schallmauer durchbrachen, zusammen. Ich weiß es nicht. Allerdings weiß ich, dass ich auch an diesem Abend zu Bett ging, mein Kindergebet sprach, in dem ich darum bat, auch am nächsten Morgen wieder vom Herrn Jesus geweckt zu werden und schließlich einschlief. -Wie jeden Abend. Wie groß das Wunder war, dass meine Welt am 26. September noch immer die gleiche war, das wussten weder meine Oma, meine Mama, mein allwissender Papa noch ich selbst. Während wir alle friedlich schliefen, zog sich im Raketenabwehrzentrum in Moskau der diensthabende Offizier Stanislaw Petrow für einen kurzen Moment das Superman-Shirt über und rettete klammheimlich die Welt.

Was war passiert? Um 00:15 Ortszeit meldete ein Alarm den Start einer US-Amerikanischen Interkontinentalrakete. Dem diensthabenden Offizier blieb nur ein geringes Zeitfenster zur Beurteilung der Lage. Petrow bewahrte die Nerven und kam zur Entscheidung, dass es sich um einen Fehlalarm in Folge eines Computerfehlers handelte. Noch während er am Telefon war, um diese Einschätzung weiterzugeben, meldete das System den Start einer zweiten, dritten, vierten und fünften Rakete…

Gemäß der damals geltenden Logik des Kalten Krieges “Wer als erstes schießt, stirbt als zweites!” hatte die Sowjetunion etwa 30 Minuten Zeit, den alles vernichtenden Gegenschlag zu initiieren. Doch Petrow behielt erneut die Nerven und kam erneut zu der Entscheidung, dass es sich um einen Computerfehler handeln müsse. Eine endlose halbe Stunde später wusste schließlich auch Petrow, dass er mit seiner Einschätzung richtig lag. Die vernichtende Detonation blieb aus.

Es war in der Tat ein Fehlalarm, hervorgerufen durch eine außergewöhnliche Konstellation von Satellitensystemen und der Sonne direkt über einer Militärbasis in den USA, die von den sowjetischen Abwehrsystemen als Raketenstarts interpretiert wurde.

Nicht auszudenken, wäre Petrow zu einer anderen Einschätzung gekommen, die aus sowjetischer Perspektive durchaus naheliegend gewesen wäre. Nur drei Wochen zuvor wurde ein südkoreanisches Passagierflugzeug über der russischen Insel Sachalin abgeschossen. Eine Vergeltungsmaßnahme? Zusätzlich sollten in naher Zukunft US-Mittelstreckenraketen in Europa stationiert werden. Der Kalte Krieg war eiskalt. Aber Petrow behielt die Nerven, übernahm Verantwortung und hat die Welt gerettet, als die hochpotente Technik versagte.

Danach zog Petrow das Helden-Shirt wieder aus und wurde unsichtbar. Er beendete seinen Armeedienst und verbrachte seinen Ruhestand in bescheidenen Verhältnissen in seiner Plattenbauwohnung in der russischen Stadt Frjasino, wo er 2017 im Alter von 77 Jahren verstarb. Kein Friedensnobelpreis! Bestenfalls eine Randnotiz der neueren Geschichte. Anlässlich einer Veranstaltung in Baden-Baden im Jahr 2012 wurde er gefragt, ob er ein Held sei. Petrow verneinte das. Er habe einfach nur seinen Job richtig gemacht. Als der Moderator nachhakte und anmerkte, dass Petrow immerhin die Welt vor einem dritten Weltkrieg bewahrt habe, entgegnete Petrow, dass das doch nichts Besonderes gewesen sei.

Danke Stanislaw Petrow, dass Sie ihren Job einfach nur richtig gemacht haben. Sie haben mir meine Kindheit, Jugend und vielleicht sogar mein Leben gerettet. Ich schreibe diesen Blog, weil Sie den Mut hatten, zu entscheiden und Verantwortung zu übernehmen. Nein, das ist vielleicht nichts Besonderes, aber es ist groß!

Der Mensch als Schlüssel zu Erfolg unserer Systeme

Unabhängig davon, dass Stanislaw Petrow (ich hoffe, ich erwähne diesen Namen so oft, dass er im Kopf bleibt) gefühlt mein Leben ermöglicht hat, damals in der Nacht vom 25. auf den 26. September 1983, bedeutet er auch für mich als Coach und Human Factors Trainer unendlich viel. Für mich ist er der Beweis für alles, was ich tue. Ich glaube daran, dass unsere Zukunft nicht nur trotz, sondern vor allem auch wegen der um sich greifenden Technisierung menschlich ist. Technik kann mit der Dynamik und Komplexität, mit der Unberechenbarkeit unserer Zeit nicht annähernd so kompetent umgehen, wie der Mensch. Selbst mit dem Wissen, dass Menschen Fehler machen und immer machen werden, weiß ich, dass der Mensch alleine der Schlüssel zu Erfolg unserer Systeme ist. Dazu muss er jedoch eigenverantwortlich agieren, Entscheidungen treffen und proaktiv die Dinge in die Hand nehmen. -Seinen Job richtig machen, wie es Petrow ausdrückte. Dass der Mensch selbst unter extremsten Bedingungen dazu in der Lage ist, dass er auch unter größtem Stress kognitiv und analytisch vorgehen kann, hat Stanislaw Petrow vorbildlich, still, leise und bescheiden bewiesen. Was die Welt braucht, um mehr Stanislaw Petrows hervorzubringen? Organisationen und Gesellschaften, die Menschen Raum und Sicherheit geben; Raum sich zu entfalten und die (psychologische) Sicherheit, die es braucht, um angstfrei Verantwortung zu übernehmen. Denn nur so können wir alle unseren Job richtig machen.

Zurück in die Zukunft

Und so klettere ich auch in dieser Woche wieder in meinen DeLorean und reise zurück in die Zukunft, um festzustellen, dass 1983 gefühlt sehr präsent ist. Kalter-Heißer Krieg reloaded? Alleine schon deshalb braucht es unendlich viele Stanislaw Petrows. Es gibt also eine Menge zu tun für Coaches wie mich.

Genießt das Wochenende.

Eure Constance

PS: Sisyphos war übrigens sein Leben lang damit beschäftigt, seinen Stein den Berg hinauf zu rollen, weil er sich bewusst dazu entschieden hat. Er wurde gefragt, ob er lieber sein Leben lang den Stein bergauf rollen wolle, oder den Menschen Frieden und Vernunft beibringen wolle… Er hat sich für den Stein entschieden! -Ich mich für die Menschen! Ich frage mich, ob mein Kollege seine Entscheidung jemals bereut hat.

Sisyphos und ich

Ich bin oben angekommen und habe trotzdem noch einen endlosen Weg vor mir! Sisyphosarbeit! - Und ich liebe sie.