Ist ja alles schön und gut mit diesem Team-Gedöns, aber...

Aus der beliebten Rubrik: Alltag eines Agile Coaches

Nachdem ich in meinen wöchentlichen Blog-Artikeln ja häufig von der Theorie berichte, mit der ich mich gerade beschäftige, ist es heute mal wieder an der Zeit, ein wenig aus der Praxis und den damit verbundenen Grenzen der Theorie zu erzählen.

Als Agile Coach begleite ich Menschen durch den Transformationsprozess ihrer Organisation, weg von den klassischen Top-Down-Management-Strukturen hin zu Unternehmensstrukturen, die ihren Menschen, ihrem Humanvermögen, Raum geben, um deren volles Potenzial auszuschöpfen. Was sich einfach anhört, ist in der Praxis ganz schön schwierig! Diese neue Autonomie schreit förmlich nach Eigenverantwortung, Selbstführung, Eigeninitiative, Mut, Selbstreflexion und so weiter und so fort. Ich sollte also in einem guten und ehrlichen Kontakt mit mir selbst sein. Gleichzeitig ist jedoch das absolute Verständnis eines Kerngedankens die Voraussetzung, um in dieser dynamischen und komplexen Welt der New Work bestehen können: der wahre Star in unserer neuen Arbeitswelt ist das Team! Will ich erfolgreich sein, muss ich verstehen, dass meine wertvollste Ressource mein Team ist. Egal wie gut ich bin, die Wahrscheinlichkeit, dass wir im Team erfolgreicher sind, als ich allein, liegt bei fast hundert Prozent!

Nun haben wir also im Idealfall eine Gruppe von Menschen, die sich autonom, eigeninitiativ, (selbst-) kritisch, mutig selbst führen und dann kommt der Coach und erzählt ihnen, dass das ja alles schön und gut sei, wenn sie jetzt jedoch wirklich erfolgreich sein wollen, müssen sie es schaffen, sich mit all diesen Eigenschaften in ein Team zu integrieren und fortan mit den Kollegen zusammen zu arbeiten…

Die Magie der neuen Perspektive

Warum Teams für gewöhnlich erfolgreicher sind, lässt sich ganz schnell und einfach mit der Physiologie unserer Wahrnehmung erklären: unsere zauberhafte Blackbox, die wir Gehirn nennen, verarbeitet nur etwa fünf Prozent all der Reize, die durch unsere Sinne eingesammelt werden, so, dass sie in unser Bewusstsein rutschen. Das, was wir als unsere individuelle Wahrheit bezeichnen, sind gerade mal fünf Prozent von dem, was tatsächlich ist. Diese fünf Prozent werden inhaltlich durch unsere Erfahrungen, unser Wertesystem, unsere Erziehung, unseren Präferenzen, etc. bestimmt. Wenn es also darum geht, in einem komplexen und dynamischen Umfeld zu entscheiden, ob es rechts oder doch lieber links herum gehen soll, ist es eine ziemlich gute Idee, sich eine zweite, dritte oder vierte Meinung zu holen. Im besten Fall frage ich sogar Menschen die ganz anders sind, als ich selbst, mit anderen Erfahrungen, einem anderen Hintergrund und einer anderen Meinung. Mit etwas Glück hat deren Gehirn sich ganz andere fünf Prozent der Realität herausgesucht, um sie auf eine bewusste Ebene zu heben.

Toll! Und jetzt haben wir den Salat der X verschiedenen Meinungen… Entscheidungsfindung im Team

In der letzten Woche hatte ich gleich mehrere Workshops, Diskussionen und Coachings, die Teamwork und Teambuilding zum Thema hatten und meine Argumente für mehr Team schienen geradezu entwaffnend! Sobald es jedoch an die praktische Umsetzung ging, habe ich immer wieder gemerkt, dass meine Kollegen wirklich bemüht waren, oft aber keinen bewussten Hebel hatten, die Team Idee in die Praxis zu transferieren. Wie löst man denn nun ein Problem im Team? Wie trifft man eine Entscheidung? Hier gab es zwei Herangehensweisen, die man aus einem anderen Kontext kennt: entweder der Chef entscheidet, oder es gibt eine demokratische Abstimmung… beide Wege scheinen nicht optimal, was meinen Teilnehmern auch irgendwie klar war. In unserer modernen und komplexen Arbeitswelt sind es schon lange nicht mehr die Vorgesetzten, die alles am besten wissen und können. Unternehmen geben Unsummen für ausgezeichnet qualifizierte Experten aus, aber wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen gehen sie zwischen Führungskräften und der Mehrheit unter? Das erscheint mir ausgesprochen ungünstig (und unrentabel)! In meiner alten Welt, der Luftfahrt, die als High Risk Environment gilt, sind derartige Entscheidungsfindungsprozesse lebensgefährlich. Wenn es also um erfolgreiche und vor allem analytische Entscheidungsfindungsprozesse geht, darf man getrost mal schauen, wie Flugzeugbesatzungen zu ihren Entscheidungen kommen. Immerhin hat man hier schon Ende der siebziger Jahre festgestellt, dass der größtmögliche Erfolg in einem dynamischen und komplexen Umfeld daraus resultiert, dass Crews als Teams zusammenarbeiten und die Kollegen die eigenen größtmögliche Ressource darstellen, wenn gerade mal wieder alles im Chaos liegen zu scheint.

Ein analytischer Entscheidungsfindungsprozess, der alle zur Verfügung stehenden Perspektiven berücksichtigt, muss her

Was in der Luftfahrt her musste (und was die agile Welt unbedingt noch braucht), war ein analytischer Entscheidungsfindungsprozess, der für Teamstrukturen nutzbar ist. Kluge Menschen haben sich FOR-DEC ausgedacht. Hört sich komisch an, ist aber ganz einfach, verblüffend einfach…

FOR-DEC ist ein Akronym, das man aus man aus den Worten “befor decision” entwickelt hat und Einzelpersonen oder eben auch ganze Teams durch einen Entscheidungsfindungsprozess führen soll. Es gilt, sechs Phasen abzuarbeiten:

  1. F steht für Facts: hier geht es darum alle verfügbaren Fakten zu sammeln. Im Flugzeug ist es durchaus möglich das einer der entscheidendsten Fakten nur von der jungen, frisch ausgebildeten Stewardess in der hinteren Bordküche wahrgenommen wird. Komplexität eben. Fakten kann man formidabel im Team sammeln. Was man im Rahmen der Faktensammlung jedoch unbedingt beachten muss ist, Annahmen nicht mit Fakten zu verwechseln. Denkt mal drüber nach!

  2. O steht für Options: Habe ich alle verfügbaren Fakten beisammen, schaue ich mal, welche Optionen es gibt. Auch hierbei darf man das Team befragen. Und Achtung: meistens gibt es mehr als zwei Optionen. Hier können andere Perspektiven ausgesprochen bereichernd sein!

  3. R steht für Risks and Benefits, denn jede Option hat Vor- und Nachteile. Auch an dieser Stelle können Teammitglieder Vor- oder Nachteile sehen, deren ich mir vielleicht gar nicht bewusst bin.

  4. D steht für Decision, denn jetzt liegen die Karten auf dem Tisch, deshalb muss die Entscheidung her. Wer sie trifft? Der, der sie auch verantwortet. In kleinen Dingen ist das jeder selbst, in seinem kleinen Bereich. In größerem Rahmen ist es traditionell oft der Chef, oder in der Luftfahrt dann der Kapitän. Allerdings wird jede Entscheidung nur so gut sein, wie die Fakten, auf welchen sie basiert. Aus diesem Grund rufe ich dazu auf, nicht über die Entscheidung, die andere getroffen haben, zu meckern, sondern sich selbst lieber mal kritisch zu hinterfragen, ob ich denn auch alle Fakten dazu beigetragen habe, um diese Entscheidung so gut wie möglich werden zu lassen.

  5. E steht schließlich für Execution, da man alle Entscheidungen ja auch irgendwann mal umsetzen muss. Hierbei ist es sinnvoll, Aufgaben klar zu verteilen und möglichst transparent zu machen.

  6. Nach der Umsetzung ist man ja eigentlich fertig. Trotzdem kommt unter Punkt sechs das vielleicht wichtigste des gesamten Prozesses. C steht für Check. Nach der Umsetzung ist es nämlich unglaublich wichtig, zu überprüfen, ob denn meine Entscheidung auch zum gewünschten Resultat geführt hat. Und wenn nicht, dann haben mir wohl Fakten gefehlt, oder vielleicht hat sich die Ausgangssituation verändert (soll passieren, in einem dynamischen Umfeld). Dann geht es einfach wieder zurück zu F und das Spiel geht von vorne los. So kann einem das FOR-DEC Modell sogar die Angst vor vermeintlich falschen Entscheidungen nehmen. Die gibt es nämlich in dynamischen und komplexen Systemen nicht.

So einfach und doch so schwer

Wenn man das so liest, erscheint ein Studium der Raketenwissenschaften nicht unbedingt als Voraussetzung dafür, FOR-DEC zu verstehen und durchzuführen. Für sich ganz allein durchläuft sicher jeder von uns diesen Prozess immer wieder, mal bewusst, mal ganz unbewusst. Das spannende ist, dass man durch FOR-DEC recht einfach und vor allem auch ohne Emotionen und Rechthaberei mehrere Menschen in den Entscheidungsfindungsprozess mit einbeziehen kann. Es geht nicht ums Recht haben, um Erfahrung, Bauchgefühl oder um das beste Durchsetzungsvermögen. Es geht um Fakten, so wie eine gemeinsame Analyse diese Fakten und ganz nebenbei bietet FOR-DEC all jenen, die in Führungsverantwortung sind, die tolle Möglichkeit, alle Ressourcen, die das Team einem zur Verfügung stellt, auch zu nutzen. In der Luftfahrt ist das tatsächlich überlebenswichtig. In meiner neuen Welt kann ich dieses Drohszenario leider nicht nutzen. Erfolg, vor allem aber Misserfolg kann hier einfacher relativiert werden, als in einem High Risk Environment wie der Luftfahrt. Ein Flugzeugabsturz ist etwas Absolutes. Bilanzen und Zahlen sind irgendwie relativ. Aber Fakt ist, dass die Faktoren, die ein Team oder eine ganze Organisation letzten Endes erfolgreich machen, auf menschlicher Ebene immer die gleichen sind. Teammanagement und die tatsächliche Nutzung des Humanvermögens eines Teams oder einer Organisation spielen in einer komplexen und dynamischen Umwelt eine immer entscheidendere Rolle.

Und jetzt weg mit den Würfeln und hin zu mehr Analyse!

Ich bin gespannt, was all jene, die in der letzten Woche irgendwie keine wirklich Alternative zur Top-Down-Entscheidung oder zur Basisdemokratie sahen, sagen werden, wenn ich ihnen FOR-DEC vorstelle! Dieses Würfelspiel der Entscheidungsfindung hat mir einfach zu viel mit Glück zu tun. Deshalb seid auch ihr von Herzen dazu eingeladen, im Rahmen eurer nächsten Entscheidung nicht nur eure eigenen Fakten zu sammeln, sondern auch einmal nachzudenken, ob es noch jemanden gibt, der vielleicht eine andere Perspektive und andere Fakten für euch hat.

Eure Constance

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Würfelt ihr noch

Oder entscheidet ihr schon?